Aktuell Hintergrund Dokumentation Archiv Links Kontakt

Brief an L. und M.

Brief eines politischen Gefangenen über das Massaker an politischen Gefangenen 1992 im Gefängnis Canto Grande und die anschließende Verlegung ins Gefängnis Yamamayo (1)




Liebe L und M.

Sowie ich Bleistift und Papier ergattern konnte, begann ich euch zu schreiben. Dieser Brief wird Tag für Tag anwachsen, und mich Euch näher bringen. Dies ist ein Ort, wo die Tage für uns sehr kurz sind. Es wird um 17.15 Uhr dunkel, und wir haben kein Licht bis um 6 Uhr früh am folgenden Tag. In Wirklichkeit hat der Tag nur 11 Stunden, und wir versuchen ihn maximal auszunutzen. An jenem Morgen des 14. April trat das ein, was die Furcht von Kejo, einige Schrecken von Betún und mehrere Fragen von Punch hervorgerufen hatte. Sie drangen gewaltsam ins Haus ein und plünderten alles, worin sie für sich eine Gefahr sahen und was ihnen als geeignetes Mittel für ihr Vorhaben erschien, jemanden unter der Beschuldigung der "Subversion" und des "Terrorismus" vor Gericht zu stellen, zu verurteilen, ins Gefängnis zu stecken und umzubringen. Die Polizisten schleppten Papiere und Bücher weg, die sie niemals weder lesen noch verstehen werden. Die Besonnenheit und aufrechte Haltung von Kejo entsprach der Würde großer Momente. Betún und Punch waren auf der Höhe der Umstände.

"Und was wird mit dir geschehen?" fragte Betún mit Händen, Augen und seinem ganzen Wesen.

"Bleib! Geh nicht weg!" sagte Punch und klammerte sich mit Körper und Seele an Lobin.

Ich spüre noch jetzt die Wärme und Zärtlichkeit der Umarmung von Kejo in der Tür, die Tränen von Betún und seine Umarmung durch das Gitter der Eingangstür hindurch, sowie das Schweigen und den besonderen Glanz in den Augen von Punch. Die Türen des Polizeiwagens schlossen sich, und das Motorengeräusch kündete von der wachsenden Distanz. Das sind Spuren und Erinnerungen, die auf die Verwirklichung vieler Träume und Sehnsüchte hoffen. Die folgenden Tage verbrachte ich stehend, den Kopf mit einem fest gebundenen blauen Handtuch umwickelt, mit erhobenen Händen gegen die Wand gestützt, umgeben von Polizisten, die die Verhafteten beschimpften, beleidigten, provozierten und schlugen.

"Rührt euch nicht, verdammt!"

"Hebt die Hände, Hundesöhne! Jetzt werdet ihr was Gutes kennen lernen... Wir werden euch hängen!" Die Bewegung der Augenbrauen in einer eigensinnigen Sprache bewirkte, dass das Handtuch auf einer Seite des Kopfes verrutschte und einen Streifen Licht einfallen ließ. Wir befanden uns in einem Raum mit hoher Decke und einem Fußboden aus Fliesen. Rund herum an der ganzen Wand Dutzende Gefangene in der gleichen Position, zwei Bänke in der Mitte, auf denen mehrere Polizisten sabbernd dösten. Der Abstieg in die Arrestzellen am dritten Tag war wie der Eintritt in die Kanalisation oder in den stinkenden Schlund eines grotesken Ungeheuers mit fauligem Eingeweide. Drei Stockwerke zu je sieben vergitterten Zellen, feucht und dunkel, die Vorderseite abgewandt von den Folterzellen und den Büros der Oberaufseher. Schließer und Schließerinnen mit einem dicken Schlüsselbund, dreist, umgeben vom Geruch billigem Parfüms, der sich mit dem Gestank der Toiletten ohne Wasser und des Abfalls mischte, mit Drohgebärden und Befehlen, die Häftlinge zum Verhör zu bringen. So war das Treiben der Polizisten in den folgenden zwölf Tagen. Sie stahlen regelmäßig das Essen, das die Angehörigen brachten, oder "verloren" es auf dem Weg. Durch die Schrift auf den Beuteln, durch den Inhalt der Sendung und den Geschmack des Essens erkannte jeder seine Lieben wieder. Wir tauschten Kommentare und Grüße und teilten die Sachen unter allen. So zelebrierten wir mit innigem Gefühl die Zuwendung und Hilfsbereitschaft, mit der die Angehörigen die Genossen unterstützen. Auf diese Art leisten sie ihren Beitrag an den Opfern und der Mühsal der großen Transformation, die der Volkskrieg darstellt, der das Land von Grenze zu Grenze aufrüttelt. Zur Abrundung des Programms wurden die Verhafteten der Presse vorgeführt. "Zerschlagung des zentralen Propagandaapparates der PCP, der angeführt wurde von...". Sie hatten es nötig, die Tatsachen aufzubauschen, zu verdrehen und auszuschmücken, um den angeblichen harten Schlag zu belegen und den Aufwand an Einsatzkräften und Propaganda zu rechtfertigen. Und die Leute, das Volk, das über Intuition und Klarsicht verfügt, fragt sich: "Wenn die Regierung schon so viele zentrale Apparate zerschlagen hat, wie sie behauptet, warum gehen dann die Aktionen weiter und nehmen zu, als gäbe es mehr zentrale Apparate anstatt weniger?" Nach Ablauf der 15-Tage-Frist folgte die Überführung von der Polizeistation in der Präfektur zum Justizpalast. Zwei maskierte Polizisten auf Motorrädern fuhren vorweg, um den Weg auszuspähen und zu sichern. Mehrere Gefangenentransporter, zwei Truppentransporter, kugelsichere Westen, AKM-Sturmgewehre, Sprechfunkgeräte und Dutzende von vermummten Polizisten mit wilder Gestik, die ihre Furcht nicht verbergen konnten. Einen Block vom Gefängnistrakt des Justizpalastes entfernt warteten Verwandte, Journalisten und Neugierige. Da stand die Seņora Naty in Begleitung anderer Angehöriger. Sie winkten mit den Armen, suchten uns mit Blicken, sandten uns ihr Lächeln, und wir alle waren in diesem Moment ein einziger Atem, ein einziger Herzschlag. Als wir in die Arrestzellen im Untergeschoss des Justizpalastes hinabstiegen, gab es neue Durchsuchungen und Fragen und der gleiche kloakenhafte Gestank in den Zellen und Amtsstuben, Aufseher mit anderen Gesichtern, aber mit dem gleichen Geist der Bewacher von Abwasserkanälen, die Wärter und Polizisten, ein Abbild des innersten Wesen des alten Staates. Vier Gitter jeweils im Abstand von acht Metern, die bis zum Ende des Ganges reichten, wo die Zellen liegen. Auf der einen Seite eine Zelle von 7 Metern Länge und sechs Metern Breite, die 56 politische Gefangene und normale Kriminelle beherbergt, alle auf ausgebreiteten Wolldecken auf dem Boden, während eine andere Zelle gegenüber von sechs Metern Breite und 18 Metern Länge von fünfzehn Kriminellen bewohnt wird, die von den anderen Häftlingen und den Polizisten "Taitas" genannt werden, Protegés, Bandenchefs und Leute mit viel Geld, die Privilegien genießen. Sie können ihre Zelle verlassen, Besuche empfangen und verfügen über eine Kochgelegenheit, Radio und Fernsehen. Leute wie "Cojo Dennis", "Che Carlitos ", "Chachi", "Retaco ", "Yeti ", "Gordo Edy ", "Estrella " und andere, die aus dem Gefängnis "Castro Castro" hierher verlegt worden sind, weil sie Bandenkämpfe, illegale Absprachen und blutige Abrechnungen angeführt haben. Die Gefängnisse sind heute mehr als je zuvor Zentren der verstärkten Erniedrigung und Unterdrückung der Gefangenen durch den Staat und durch andere Gefangene. Gleichzeitig sind sie Schaukästen, Märkte und Zentren der inneren Fäulnis von Polizei und Gefängnisaufsehern, die die Gewohnheiten, die Sprache, das Verhalten und Interessen des sozialen Aussatzes übernommen haben und auf den Rest der Gesellschaft übertragen, indem sie obendrein damit prahlen und sie bewusst zur Schau stellen.

"Carlos Berrocal!" schrie "Chachi" und imitierte einen der Gefängniswärter. Sofort näherte sich einer der Häftlinge dem Gitter und antwortete: "Anwesend". "Chachi" griff seine Haare und zog ihn gewaltsam gegen das Gitter. "Estrella" hielt ihm die Arme durch die Gitter hindurch fest.

"Warum bist du hier?", fragte Estrella.

"Wegen übler Nachrede", antwortete Berrocal mit zitternder Stimme und hervorquellenden Augen.

"So, so, üble Nachrede, ja? Du Hurensohn bist hier, weil du deine Tochter vergewaltigt hast, und jetzt wirst du sterben." Und "Chachi "versetzte dem Kopf von Berrocal heftige Schläge.

"Reiß ihm ein Auge aus", schrie der andere. Berrocal versuchte auszuweichen, zappelte und schrie... "Ich war es nicht, es war mein Sohn."

"Das heißt, du hältst deinen Kopf für ihn hin und löffelst die Suppe für ihn aus?"

"Lügner!" Eine gespannte Ruhe in der Zelle, furchtsame Blicke zum Gitter, jeder scheinbar mit sich selbst beschäftigt, keiner griff ein oder sagte etwas. Die Schließer, die die Information geliefert hat, ließen sich nicht blicken. In den folgenden Tagen öffneten sie mehrere Male das Gitter, damit die "Taitas" abkassieren konnten, indem sie den anderen Häftlingen Wolldecken, Kleidungsstücke oder Essen wegnahmen. Nichts davon passierte den politischen Gefangenen. Die "Taitas" behandelten sie im Gegenteil mit großem Respekt, und im Rahmen ihrer Posen und Zurschaustellung von Macht prahlten sie damit, mehrere von ihnen zu kennen und sprachen von ihnen mit Vertrautheit. Eines Tages rief mich "Chachi" von seinem Gitter her:

"Hör mal zu, auf ein Wort! Nur aus Neugier, sind Sie mit den Brüdern... verwandt?"

"Ja, sie sind meine Cousins", antwortete ich.

"Ah, sie sind gute Freunde von mir. Wir haben uns im Pavillon 8 in Lurigancho kennen gelernt. Entschuldigt, wenn wir manchmal die harte Tour fahren und in die andere Zelle kommen. Doch ich hoffe, ihr werdet euch an uns erinnern, wenn ihr an der Macht seid." Sie, die jahrelang das Verhalten der Kriegsgefangenen im Pavillon 1A der Frauen und 4B der Männer im "Leuchtenden Gefechtsstand" des Gefängnisses "Castro Castro" erlebten, haben dabei begriffen, dass der Sieg der PCP unvermeidlich ist, und fühlen, dass die Revolution auch sie ohne Rücksicht hinwegfegen wird.

"Heute ist der 1. Mai, der Tag des internationalen Proletariats, und wir werden ihn feiern. Formiert euch, Genossen". Die Stimme hallte in der Zelle wider und 23 politische Gefangene stellten sich in Dreierreihen auf.

"Wacht auf, Verdammte dieser Erde...!" So wie hier fanden an diesem Tag Tausende, ja Millionen Feiern auf der ganzen Welt statt. Wir fühlten uns als Teil der Arbeiterklasse und ihrer neuen Welt, und das machte uns anders. Die Stimmen und Losungen erfüllten den alten Justizpalast, drangen in die Freiheit, erhoben sich draußen und erreichten die Ohren und die Herzen des Volkes.

Am Dienstag, am 5. Mai, um 10.30 Uhr öffneten die Wärter die Zellen und riefen:

"Im Fünferreihen aufstellen, mit dem mütterlichen Nachnamen antworten". Dutzende von Polizisten waren am Fuß der Treppe postiert und erwarteten die Gefangenen, die aufgerufen wurden, um sie zu durchsuchen oder mit Händen gegen die Wand gestützt den "Cacheo" zu machen, wie sie es nennen. Sie traten den Gefangenen gegen die Fußknöchel, damit sie die Beine weit spreizten, und legten ihnen Handschellen an, stießen und drückten sie paarweise in Richtung Treppe, damit sie dort warteten, bis sie in den Gefangenentransporter einsteigen konnten.

"Näher zusammen, verflucht!"

"Den Kopf nach unten!"

"Paarweise aufstellen!"

"Rennt oder ihr bekommt den Schlagstock auf den Rücken!"

"Damit ihr es wisst, wenn jemand singt, machen wir ihn fertig", verkündete einer, der wie ein Offizier aussah. Die Fahrt dauerte rund 40 Minuten. Straßen und Häuser flogen schnell am Fenster des Busses vorbei. Die Haltestelle "Hacienda" und die Kurve "Canto Rey" waren die letzten bekannten Orte, die an unseren Augen vorbeizogen. Bevor der Wagen endgültig vor dem Gefängnis "Castro Castro" anhielt, hörten wir bereits Händeklatschen und Sprechchöre mit Parolen aus dem Inneren. Und man konnte auch eine Banderole auf dem Dach des Pavillons 1A erkennen, auf dem in goldfarbenen Buchstaben auf rotem Grund stand: "Nein zum Genozid!" Ein Leutnant der Guardia Republicana trat an die Tür und rief: "Die für Canto Grande aussteigen! Jetzt werdet ihr mich kennenlernen, jetzt bin ich mit Schlagen dran." Und er versetzte allen, die ausstiegen, einen harten Schlag auf den Rücken. Nachdem man uns drinnen die Fingerabdrücke abgenommen und die üblichen Fragen gestellt hatte, ließ derselbe Polizist die Gefangenen mit den Händen gegen die Wand gelehnt Aufstellung nehmen und schlug ihnen mit dem Schlagstock gegen die Waden. Einige brachen unter dem Schmerz zusammen, und bei anderen schwollen die Beine so stark an, dass sie mehrere Tage lang die Hose nicht herunterziehen konnten. Nach dem Durchqueren der Tür, die das Büro des Oberaufsehers vom Rest des Gefängnisses trennt, führte eine Zementrampe bis zum Tor des Hauptganges, von dem die Eingänge aller Zellengebäude mit der Vorderseite in Richtung "Rondell" abgehen.

Auf der einen Seite Gruppen von Polizisten, links das Gittertor, das die Küche und die Verwaltungsgebäude abtrennt, daneben die Stufen, die zu dem Gebäude führen, das "Aufnahme" genannt wird, und gegenüber ein breites Eisentor, das zum Hauptgang führt. Die achtzehn politischen Gefangenen wurden zusammen mit Dutzenden von kriminellen Gefangenen mit finsteren, wilden Mienen dem Dienst habenden Oberaufseher übergeben und zum Pavillon 4B gebracht.

"Gibt es hier einen 'Pelikan'?" schrie einer von ihnen.

"Wer kommt aus Callao?" rief ein anderer.

Rechts, etwa 25 Meter von Tor entfernt, das Haus 1A der weiblichen politischen Gefangenen. Alle Fenster in den vier Stockwerken waren mit weißem Stoff verhängt. Man konnte gerade noch sehen, dass sie zwischen den Falten der Vorhänge, die Türen und Fenster bedeckten, hindurchlugten. Vier Delegierte kamen heraus, um die neuen Gefangenen zu begrüßen. Sie trugen Bänke nach draußen und luden uns ein, Platz zu nehmen, während der Oberaufseher fragte: "Nehmt ihr sie auf?" In der Vergangenheit waren zahlreiche Kriminelle, Entführer und Erpresser, die den Namen der PCP benutzten, um ihre Schandtaten zu begehen, abgewiesen und ausgeschlossen worden. Die neuen Gefangenen warteten in dem kleinen, mit Maschendraht abgetrennten Bereich, der "Hühnerstall" genannt wurde. Es war ein wirkliches Ereignis nach 16 Jahren Freunde und Genossen wieder zu sehen, und die Umarmungen und das Händeschütteln trugen dazu bei.

"Cesar!"

"Lobin, wie geht es dir?"

"Wie lange haben wir uns nicht gesehen!"

Beim Eintritt in den "Pavillon der Senderisten", wie er auch genannt wurde, spürte man eine andere Wirklichkeit. Das geordnete und disziplinierte Hin und Her der Gefangenen, das mit der Erfüllung der verschiedenen Aufgaben des Tages verbunden war, machte es möglich, dass über 400 Gefangene problemlos in Räumlichkeiten leben konnten, die für 120 Personen bestimmt waren. Bei unseren ersten Schritten im "Gefechtsstand" trafen wir auf eine Gruppe von Genossen, die das Geschirr ihrer mehr als 400 Mitgefangenen abwuschen. Weiter vorn, am Ende der Rampe, die den ersten Raum rechts begrenzte, kamen wir in den Innenhof. Er war groß, doch von unregelmäßiger Form, umgeben von einer etwa acht Meter hohen Ziegelmauer. Dort probte eine Gruppe von Gefangenen revolutionäre Märsche, begleitet von der Melodie einer Musikgruppe und im Takt einer Kriegstrommel. Wie neu war das alles! Und wir versuchten im Pavillon 4B das zu entdecken, was sowohl Verwandte als auch Fremde erzählt oder verbreitet hatten. Wir saßen an einem Ende des Mauerabsatzes, der den Innenhof umgibt, und grüßten einen Bekannten nach dem anderen. Dort stieß Hugo Deodato zu uns. Wir hatten uns zehn Jahre lang nicht gesehen, und er sah merklich verändert aus. Sein braun gebranntes Gesicht bildete einen markanten Kontrast zu dem Weiß seiner Haare und seines Bartes. Er strahlte Energie, Enthusiasmus, Besorgnis und Zuneigung zu den Genossen aus. Dort näherte sich uns auch Cesar Augusto. Bis auf einige graue Strähnen im Haar sah er aus wie immer. Ich erinnere mich, wie die Seņora Nati vor über 16 Jahren, als sie ihn in Gedanken versunken und verliebt sah, zu ihm sagte, "du siehst aus wie ein Schwein, das niemals in den Himmel blickt", worauf ihm sein beklagenswerter Zustand bewusst wurde und er darauf reagierte, indem er in sich ging und sich korrigierte. Nach langer Zeit eine herzliche Umarmung von ihm, als er auf dem Weg in den vorderen Raum vorbeikam. Fünfzehn Jahre hatten wir uns nicht gesehen. Ich fand ihn standhafter und gleichzeitig gefestigter in seinen Ideen vor. Diese besondere Gabe im Umgang mit Menschen, die Vertrauen einflößt, hatte sich verstärkt.

"Und wie geht es dir? Ich hätte dich lieber unter anderen Umständen wieder getroffen."

"Von nun an werden wie reichlich Zeit haben, um uns alles zu erzählen."

"Du siehst abgemagert aus, doch hier wirst du dich schnell erholen."

"Natürlich, wir sehen uns später. Die Delegierten rufen uns."

"Ja, geh nur."

"Braucht jemand von euch eine Diät oder verträgt irgendein Nahrungsmittel nicht?" fragte der Delegierte, dessen lebhafte Augen hinter seiner Brille blitzten und noch auffälliger waren als sein Borsalino-Hut. Niemand äußerte Probleme dieser Art, und wir nahmen alle von dem Reis mit Bohnen und Thunfisch und dem Kräutertee. Danach ging es sofort zur Sanitätskommission, wo eine Karteikarte über unseren allgemeinen Gesundheitszustand angelegt wurde, man uns mit dem Stethoskop abhörte und schließlich die von den Schlägen am Mittag blau angeschwollenen und schmerzenden Waden einrieb. Auf dem Weg in den Hof traf ich Carlos Jesús, wie immer lachend und sportlich, schlanker als früher und mit dieser Miene von "wir reden später" in seinen großen grünen Augen.

Wenn es im Leben etwas gibt, was man nicht verwirklicht hat, und dieses abrupte Wendungen und Kurswechsel nimmt, die Jahre dauern, scheint die Zeit ein neues Maß zu erhalten. Die Menschen reifen in dem Maße, wie sie von der Lösung eines Problems zu der eines anderen gelangen, und ihre Überzeugung und Sicherheit darüber, was sie wollen, wird zunehmend gefestigt. Das Wiedersehen mit so vielen Bekannten nach so vielen Jahren, in denen jeder seinen kleinen Weg mit unterschiedlichen Abschnitten zurückgelegt hat, jedoch alle dasselbe Ideal verfolgten und ihre Energie vereint haben, erfüllte unseren Geist mit einem ganz besonderen Gefühl. Die fast fünfundzwanzig Tage seit der Verhaftung durch die Polizei mit dem Saldo des Sieges über die Kampagne der Reaktion und dem Bewusstsein zahlreicher Fehler, die wir begingen und die Opfer gefordert haben, blieb zurück und war doch nah. Der übrige Raum war ausgefüllt durch die Gegenwart und Erinnerung an Mama Naty, Punch, Betun, Kejo, Carito und unsere Eltern, Geschwister und Kinder und die Nächsten all unserer Genossen. Von nun an leben wir unsere Leben parallel, jedoch untrennbar verbunden. Am Tag der Überführung hatten wir uns vorgestellt, wie wir am Mittwoch, dem 6., dem Besuchstag, alle wiedersehen würden, und an diesem Abend im Hof kamen diese Vorstellungen verstärkt zurück, und wir sehnten sie noch mehr herbei. Doch es stellt sich auch die Frage, ob nach so vielen Anläufen in über 16 Jahren, die wir hinter uns gebracht haben, seit wir 1965 mit Candelaria mit angehaltenem Atem die Nachrichten über den Krieg in Junin und Cuzco hörten, dies der Beginn der Fortsetzung oder der Höhepunkt des aufopferungsvollen, unaufhörlichen Kampfes und des vollkommenen Einsatzes für die Revolution sei. Dieses Maß der Zeit zeigte uns, dass es viel zu tun gab, wir Vieles nicht verwirklicht und gelöst haben, dass wir einige Jahre verloren haben, dass die Zeit sehr kurz war und mehr noch unser Leben, dass wir das, was wir vor 16 Jahren begonnen haben, wieder aufnehmen könnten, dass es jedoch nicht sein konnte und vielmehr heute die Fortsetzung des unvollendeten Kampfes ansteht, dass diejenigen, die hätten dabei sein sollen, nicht mehr sind, und schließlich all das Neue das Werk aller gemeinsam sein müsste, derjenigen, die mit uns kämpfen und weiter mit uns kämpfen werden, der neuen Menschen, die wir hervorgebracht haben, unseren Genossen und Genossinnen, all derer, mit denen wir heute mit 1000, mit Millionen Fäden verbunden sind und all das in einer größeren Dimension. Von jenem Ort und zu jener Stunde flog meine Seele zu dir und suchte in deinem Schoß Zuflucht. Die folgenden Tage trugen dazu bei, mehrere Teile dieser komplexen und notwendigen Frage zu klären und zu beantworten. Es war 19:45 Uhr, als im Gefängnis das Licht ausging. Für einen Moment kam der Strom zurück, doch dann kehrte vollkommenen Dunkelheit ein. Es schien eine Routineangelegenheit zu sein, denn schon seit mehreren Tagen gab es Stromausfälle. Bei Kerzenlicht wurden wir im Saal des Erdgeschosses untergebracht. Wir erhielten Schaumstoffmatratzen und Wolldecken, um dort bis zum nächsten Tag, dem Mittwoch, dem Besuchstag, zu schlafen.


Übersetzung aus dem Spanischen (1. Korrektur) Quelle des Orignaltextes: Afadevig



[weiter]

nach oben