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Bericht aus "Die Stimmen der Verschwundenen".

Veröffentlichung der "Defensoría del Pueblo" von Peru.


Reflexionen

Auch wenn die Statistiken das Ausmaß der Tragödie beschreiben, so erlaubt doch keine Zahl, keine Beschreibung der Folgen des zwangsweisen Verschwindens, wie berührend sie auch sein mag, in die Finsternis der individuellen Tragödien einzudringen. Im Angesicht des eigenen Todes ist jeder auf sich allein gestellt. Die Forderung nach Gerechtigkeit zu erfüllen ist das mindeste, was man machen kann, doch die Justiz greift immer erst dann ein, wenn die Ereignisse geschehen sind, und es gibt keine angemessene materielle Wiedergutmachung. In der Welt, in der wir leben, machen wir uns zu leicht die Vorstellung, dass man mit Geld alles regeln kann. Diese Auffassung erscheint mir in gewisser Weise beleidigend. Natürlich ist es bequemer, in einem Volvo des Jahres zu weinen. Die Mauer des Schweigens, die ich am Anfang meiner Ausführungen erwähnte, beginnt, wo die Ausdrucksmöglichkeiten des Wortes enden. Jenseits eines gewissen Grades des Grauens verwandeln sich die Vokabeln in bloße Laute. Die Opfer der Gewalt sprechen von ihren Erfahrungen, als wären es alltägliche und gewöhnliche Angelegenheiten, doch plötzlich werden die Pupillen glasig, der Blick gerät außer Kontrolle, prallt an einer Mauer der Kommunikationslosigkeit ab und kehrt in die innere Hölle der Erinnerung zurück.

Es gibt Ereignisse, die eine plötzliche Erstarrung des Körpers bewirken, das Herz verzehren und es in Asche verwandeln. Dann wird das Syndrom von Katyn geboren.

1993 entdeckten Soldaten der Wehrmacht in einem Wald bei der Ortschaft Katyn in der Nähe von Smolensk die Leichen von 4500 polnischen Offizieren, die durch einen Genickschuss getötet worden waren. Die Deutschen beschuldigten die Russen, und die Russen die Nazis. Die Angehörigen der Opfer konnten weder während der Besetzung durch die Nazis noch während des sowjetischen "Protektorats" über die Tragödie reden. Alle, die versuchten Nachforschungen über das Schicksal ihrer Angehörigen anzustellen oder die Erinnerung wachzurufen, verschwanden oder starben bei merkwürdigen Unfällen.

Begraben in ihrem geheimen Schmerz wurden sie allmählich zerstreut, depressiv, apathisch oder verstummten.

Die Demokratie bewirkt eine Selbstenthauptung, wenn die Bürger zu Fatalisten werden und aufhören, sich für das zu interessieren, was sie direkt angeht, in erster Linie für das Recht auf Leben, sowohl das eigene als auch das der anderen.

In den Konzentrationslagern, die die Landkarte Europas mit Blut beflecken, gibt es kein Mahnmal, keine Gedenkplakette. Es ist der Ort des Schweigens Gottes. Es ist das unfassbare Denkmal des Unaussprechlichen oder dessen, von dem bereits gesagt wurde, dass es hier nicht stattfand.

Die Worte sind zerbrechlich. Sie wirken wie Zeichnungen im Sand am Strand des Ozeans. Es kommt eine Welle und löscht alles aus. Was wir in diesem gepeinigten Land benötigen, ist eine große nationale Katharsis, wobei ich das Wort national unterstreiche. Denn wir sollten uns keine Illusionen machen. Alle, die wir uns hier versammelt haben, sind auf die eine oder andere Art Experten in den Tragödien, die von der Gewalt hervorgerufen worden sind. Doch draußen leben jene, die nichts wissen wollen und die ihre Unwissenheit oder Gleichgültigkeit hochhalten wie die Landesflagge. Wir knüpfen an einem prachtvollen Teppich mit Fäden aus Nebel.

"Katharsis", ich benutze das Wort ohne irgendeine Vorsichtsmaßnahme. Vielleicht ist es ein Traum, vielleicht ist es eine Vision. Die Analyse der Bezeichnung ist nicht wichtig, doch die Gerechtigkeit, die Versöhnung oder die Wiederversöhnung werden von einem lebendigen Organismus hervorgebracht wie eine Mutter, die ein Kind zur Welt bringt. Sie werden nicht auf wundersame Weise aus einem runden Tisch oder einer Subkommission hervorgehen, wie elegant der erstere auch sein mag und wie respektabel die zweite.

Der Traum oder die Vision wird unter gefälliger Bedeutungslosigkeit begraben werden, wenn die erste Macht des Staates, d. h. die Massenmedien, nicht ihre Pflicht erfüllen, die Öffentlichkeit zu erziehen, indem sie eine wahrhaftige Information über die Krankheit, die an uns zehrt, liefern. Wenn ein guter Artikel über die Menschenrechte erscheint, feiern wir das, wie wir den Sieg der Nationalelf von 1969 gefeiert haben. Währenddessen können wir jeden Tag, den Gott uns gibt, einen ganzen Fächer von seitenlangen Berichten über nicht existente sportliche Ereignisse und Schönheiten genießen, die wie Meteoriten aufblitzen und verglühen. Das Missverhältnis ist so kolossal wie die Rente eines Arbeiters gegenüber dem Vermögen von Montesinos.

Bei einer Gelegenheit sagte ich im Gefängnis Yanamayo, der zweiten heiligen Stadt von Sendero, zu den Verfechtern eines Friedensabkommens, der ersehnten nationalen Versöhnung müsste notwendigerweise eine Selbstkritik, eine noble Geste oder eine Bitte um Pardon vorausgehen, und wenn die anderen das nicht wollen, müsst ihr die Initiative ergreifen. Sie nickten zustimmend mit dem Kopf.

Tschechow schrieb: Jeder Mensch steht bei seiner Geburt drei Wegen gegenüber. Geht er nach rechts, werden ihn die Wölfe fressen, geht er nach links, wird er die Wölfe fressen, und wenn er geradeaus geht, frisst er sich selbst. Was für eine glänzende Perspektive! Außer wir bauen eine andere Straße himmelwärts.

1968 nach der Tet-Offensive sagte mir ein Major der US-Armee gegenüber den Ruinen von Ben-Tre in Vietnam sehr ernsthaft: "Es war notwendig die Stadt zu zerstören, um sie zu retten." Sie legten die Stadt in Trümmer und wussten nicht, was sie mit den Ruinen machen sollen. Darin liegt, meine Damen und Herren, eine versteckte Botschaft.

Hubert Lanssiers



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Übersetzung aus dem Spanischen nach: "Die Stimmen der Verschwundenen" ("Las Voces des los Desaparecidos"), herausgegeben von der Defensoría del Pueblo (Ombudsman) von Peru, 2000, S. 9 ff. (1. Korrektur)


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