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Bericht aus "Die Stimmen der Verschwundenen".

Veröffentlichung der "Defensoría del Pueblo" von Peru.


"... ich bin bis heute wie verrückt ... denn wo er geschlafen hat, ist ein leerer Platz, wo er gegessen hat, ist ein leerer Platz, sein Essen - ein leerer Teller, wonach es verlangt, worum er bittet, es fehlt. ... ich bin fast verrückt geworden ... seit damals bin ich kein Mensch mehr ...".

A. C. S. A.

Ich bin 71 Jahre alt, verheiratet, arbeite nur im Haushalt. Ich habe nichts gelernt. Ich lebe in Huamanga, zusammen mit meinem Mann und einer Tochter, die Rechtsanwältin ist. Bei uns wohnt auch eine Enkelin. Ich hatte fünf Kinder. Es waren 8, doch drei haben wir bereits verloren. Einer ist verschwunden, mein Sohn Oscar.

Umstände der Verhaftung

(...) Am 2. Juli 1984 um etwa 0:30 Uhr hat es an meiner Tür geklopft. "Was ist los ... wer klopft um diese Zeit, mein Gott?" so habe ich mich gefragt. Zu dieser Zeit gab es ständig Razzien. Dann habe ich die Tür aufgemacht. ... Sie sind alle hereingekommen, ungefähr 30 vermummte Männer. Vor der Tür standen zwei Armeenlastwagen auf der Straße. Ein Teil hatte Uniformen der Armee an, ein anderer Teil war in Zivil. Es war eine kombinierte Truppe. Sie sind also hereingekommen und haben das Haus durchsucht. Wir schliefen in einem Zimmer, von dort haben sie uns alle herausgeholt. Wir mussten uns gegen die Wand stellen, meine Söhne, meine Töchter, wir alle. Dann haben sie meinen Sohn herausgeholt. Er hatte sicher geschlafen und nichts gehört. Sie haben alle unsere Sachen durchsucht und haben keinen Beweis und nichts gefunden. Denn es gab nichts zu finden. Da haben sie meinen Sohn aufstehen lassen, an den Haaren haben sie ihn hoch gerissen, und ihn nach draußen gebracht. Direkt neben mir stand er. Meine Tochter sagte: "Warum behandeln Sie meinen Bruder so? Was haben Sie gefunden?" "Verflucht", haben sie sie rüde beschimpft, "verdammte Nutte, halt den Mund." Und mich haben sie mit der Waffe bedroht, meine Töchter auch und auch meinen Mann. Und sie haben meinen Sohn, wie er war, im Schlafanzug, ohne Schuhe, mitgenommen. Das ist traurig. Mein Sohn stand neben mir und sagte: "Mama, nicht weinen, nicht weinen, Mama. Ich bin ein Mann und habe mir nichts zu Schulden kommen lassen, damit sie mich schlagen, damit sie mir etwas antun." Da sagte ich zu ihnen: "Bitte, lassen sie meinen Mann los, damit er ihm seine Schuhe und eine Wolldecke geben kann." So habe ich zu ihnen gesagt. Und da hat mein Mann ihm seine Schuhe und eine Wolldecke gereicht. Und sie haben gesagt: "Wir werden ihn mitnehmen." "Nein! Warum?" sagte ich. "Sie können meinen Sohn nicht mitnehmen. Das können Sie nicht!" Und ich hielt ihn fest und zog, ich klammerte mich an meinem Sohn fest. "Dann nehmt mich auch mit, ihr könnt mich umbringen oder machen, was ihr wollt, aber mit mir." Und da haben sie mir an der Haustür Fußtritte versetzt und meinen Sohn weggezerrt. Sie haben meinen Sohn mitgenommen, und er ist bis heute nicht zurückgekommen.

Die Suche in Haftzentren

Danach haben sie ihn in den Wagen geschoben und mir zugerufen: "Jammere nicht, Alte, morgen übergeben wir ihn der Armee, warte dort am Tor." Das haben sie mir gesagt. Darauf bin ich in der Nacht vom Freitag auf Sonnabend schon im Morgengrauen, ich weiß nicht wie, zur Armee, und nichts, zur Guardia Civil, nichts, zur Guardia Republicana, nichts, zur PIP (Zivilpolizei), nichts. Niemand hat mir Auskunft gegeben. "Er ist nicht da. Er ist nicht da. Hier haben sie ihn nicht hergebracht. Sicherlich hat die Armee ihn." Als ich zur Armee ging, sagten sie mir: "Nein, wir haben ihn nicht hergebracht. Sicherlich hat ihn die PIP." So sagten sie mir. Also bin ich zur PIP, und zur Guardia Republicana und zur Guardia Civil. Niemand gab mir Bescheid. "Nein, er ist nicht hier, wir waren es nicht", sagten alle, "wir nicht".

Anzeige bei den Behörden

Es war Sonnabend, Sonntag, Montag schon, und ich lief von einer Stelle zur anderen. Niemand wusste etwas. Nichts. "Was soll ich machen? Was soll ich nur machen?" Ich wusste nicht, was tun. Ich ging ins Zentrum und war ratlos: "Wohin soll ich mich wenden? Wie ist es?" Dann bin ich zum Staatsanwalt gegangen. Am Donnerstag habe ich ein Papier bei der Staatsanwaltschaft vorgelegt. Würde der Staatsanwalt hingehen oder nicht? Er sagte er mir: "Er ist nicht da. Sie sagen, er ist nicht angekommen." Also haben wir mit dem Anwalt weiter gedrängt und fast jede Woche ein Papier vorgelegt. Erst beim Staatsanwalt, dann bei der Armee, auch bei der PIP, der Guardia Civil, der Guardia Republicana, überall habe ich Eingaben gemacht, doch nirgends habe ich Antwort bekommen. Und dann, nach 14 Tagen, hat mein Sohn einen Zettel geschickt, auf dem stand: "Liebe Mama, ich bin hier, ich will schnell raus, doch es geht nicht. Besorge Geld und einen Anwalt, damit sie mich freilassen." Jemand, den sie freigelassen hatten, hat mir Bescheid gesagt. Er war mit ihm zusammen. Das hat er mir geschickt. Die Schrift ist schon ganz verblichen... Es ist seine Handschrift, er selbst hat es geschrieben... diesen Zettel hat er mir aus der Kaserne der Armee Los Cabitos geschickt. Da war er. Wo haben wir ihn nicht überall gesucht, aber wir haben ihn nicht gefunden. Bis heute wissen wir nichts.

Zeugen der Verhaftung und Misshandlungen der Verhafteten

(...) Einer, der freigelassen worden ist, hat mir erzählt: "... Da ist ihr Sohn. Er ist mein Freund. Er hält der Folter stand, er ja, nicht wie die anderen, die schreien und weinen, wenn sie sie schlagen und dann sagen: ?Sei ruhig, Feigling, verdammt, warum schreist du'. Das hat man mir erzählt.

"Doch eines Tages ist eine Frau hereingekommen, und damit sie freigelassen wird, hat sie Ihren Sohn beschuldigt. Darum ist er geblieben, und dann haben sie ihn in den Hubschrauber steigen lassen.'Wir werden ihn nach Paras-Totos bringen', haben sie gesagt und ihn mitgenommen, Seņora." Das hat man mir gesagt. Dabei ist es geblieben. Weiter habe ich nichts erfahren. Und seidem haben wir überall nachgefragt, doch wir haben nie etwas erfahren. Er soll in Paras-Totos sein. Und sie sagen: "Vielleicht haben sie ihn dort umgebracht." Was haben sie wohl mit ihm gemacht? Das ist es, was mir passiert ist.

Die Suche auf dem Land und die Entdeckung von Leichen

Ich habe ihn überall gesucht, überall auf dem Land. "Vielleicht haben sie ihn dort umgebracht, und ich finde ihn", dachte ich. Zum Beispiel in Puracati. Da waren viele Leichen. Schweine und Hunde waren dabei, sie anzufressen, als ich ankam. Ich habe sie umgedreht, weil ich dachte, vielleicht ist es mein Sohn. Ich hatte keine Angst. Zu der Zeit konnte ich nicht essen. Ich habe damals nur von Wasser gelebt, einfach Wasser getrunken, wie und wo auch immer. Ich drehte sie um, und nichts. Der eine hatte Goldzähne, der andere keine Zähne. Mein Sohn war nicht dabei. So habe ich überall gesucht. Ich habe an einem Hang nach ihm gerufen. "Vielleicht haben sie ihn den Hang hinuntergeworfen", dachte ich, "und vielleicht antwortet mir jemand." Und ich schrie: "Oscaaar!" Ich rief seinen Namen, in der Hoffnung, ihn zu finden, doch es kam keine Antwort. Ich habe meinen Sohn nicht gefunden. (...)

Ein anderes Mal bin ich nach Quinua. Man hat mir Bescheid gesagt, dass es dort viele Leichen gibt, an einem Hang, wo es einen Erdrutsch gegeben hatte. Es war schon Nachmittag, 3 oder 4 Uhr. (Mein Sohn war seit einem Monat verschwunden.) Man hatte mir gesagt: "Seņora, dort gibt es Leichen, vielleicht ist Ihr Sohn dabei." Es ist weit bis dorthin. "Wie komme ich hin?" dachte ich. In bin in Richtung Tambo gefahren, das ist der Weg. Ich kam also an dem Erdrutsch an. Der Ort heißt Paycochallaoc, und da waren die Leichen. Alle mit Seilen gefesselt, Wunden am ganzen Körper. Alte Leute, Jugendliche, Kinder. Während ich einen nach dem anderen umdrehte, wurde es spät. Wie verrückt bin ich zurück nach Quinua. Wie spät mag es wohl gewesen sein, als ich ankam? Ich ging zum Bürgermeister und sagte zu ihm: "Bitte, dort sind Leichen, am Erdrutsch. Sie sind von Wasser durchgeweicht. Bitte, bringt sie her. Bestimmt werden sie heute Nacht die Hunde fressen", so habe ich zu ihm gesagt. Das war im Oktober, am 12. Oktober. Der Bürgermeister hat veranlasst, dass sie geborgen werden. Noch in der Nacht sind sie mit Lampen losgezogen und haben zehn Leichen geborgen. (...) Und dann, als sie schon auf dem Friedhof von Quinua waren, haben sie mich geholt. Eine nach der anderen haben sie mir gezeigt. "Ist das Ihr Sohn? Ist das Ihr Sohn?" fragten sie mich. Einer stützte mich. Ich wollte mich nicht nähern, und habe geweint. (...) So fand ich viele Dinge, als ich meinen Sohn suchte. Jetzt sind die Leichen auf dem Friedhof von Quinua in einem Massengrab, die Armen.

Folgen der Gewalt

Danach, schon mit den anderen Frauen zusammen, fand ich noch viele Stellen, viele Leichen. Ich begann mich mit ihnen zu treffen. Erst da haben wir uns mit einigen anderen Frauen, Verwandten von Verschwundenen, zusammengetan. Die ersten Tage war ich allein unterwegs, überall allein. Ich hatte keine Angst, vor gar nichts, mir war egal, ob sie mich umbringen oder sonst was mit mir machen. (...) Ich habe fast den Verstand verloren. Manchmal wusste ich nicht, wo ich lang gehe, und lief gegen einen Pfosten oder eine Mauer, und erst da wachte ich auf. So bin ich herumgelaufen ... (...) Mein Mann war zu Hause. Er machte mit den älteren meiner Kinder das Essen. Es war fertig, wenn ich nach Hause kam, doch mir war es egal, ob ich aß oder nicht. Ich konnte nicht essen, ich konnte einfach nicht essen. "Mama, iss", doch nein, ich trank nur Wasser, egal wo und wie. Seit damals lebe ich fast nur von Wasser.

Ich bin bis heute wie verrückt ... denn wo er geschlafen hat, ist ein leerer Platz, wo er gegessen hat, ist ein leerer Platz, sein Essen - ein leerer Teller, wonach er verlangt, worum er bittet, es fehlt. ... ich bin fast verrückt geworden ... seit damals bin ich kein Mensch mehr. Erst im letzten oder vorletzten Jahr bin ich wie aus einem Traum aufgewacht. Doch die Zeit davor war mir alles egal. Selbst mein Haus war mir egal. Mich interessierte nicht, ob es eingestürzt war oder schmutzig war oder was auch immer. Ich weiß nicht, aber es interessierte mich einfach nicht. Es war schwer, unser Leben wieder aufzunehmen.

Die ständige Ungewissheit

Ich habe 17 Jahre lang gesucht, seit 1983. (....) Ich kann nur daran denken, ob er tot ist, wo seine Reste sind. Und ich denke immer noch, wenn jemand an die Tür klopft: "Vielleicht kommt mein Sohn zurück oder jemand bringt eine Nachricht von ihm." So verbringe ich meine Tage. Darum möchte ich Gerechtigkeit. Wir wollen wissen, was passiert ist, was meinem Sohn, der nichts getan hat, zugestoßen ist. Wenn jemand auf dem Land aufgegriffen wird, wie könnte ich da reklamieren, das könnte ich nicht. Aber mein Sohn ist unschuldig. Er hat zu Hause in seinem Bett geschlafen, als sie ihn mitgenommen haben. Warum haben sie das gemacht?

Forderung an die Behörden

Ich will Gerechtigkeit. Wir wollen wissen, wo mein Sohn und all die anderen Verschwundenen sind. Ich will es wissen. Ich will, dass sie bekennen, was sie gemacht haben, dass sie uns eine Entschädigung zahlen, aber als erstes sollen sie uns seine Reste übergeben. Das wollen wir. Das fordere ich ganz offen. Sie sagen: "Diese Frau ist eine Terroristin." Das sagen sie, und sie haben mich sogar angezeigt, unter Druck gesetzt und eine Ermittlung gegen mich eingeleitet. Drei Jahre lang lief ein Verfahren gegen mich. Dann haben sie es glücklicherweise fallen gelassen, denn ich habe nichts getan.

Juli 2000

Juli 2000



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Übersetzung aus dem Spanischen nach: "Die Stimmen der Verschwundenen" ("Las Voces des los Desaparecidos"), herausgegeben von der Defensoría del Pueblo (Ombudsman) von Peru, 2000, S. 9 ff. (1. Korrektur)


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