Aktuell Hintergrund Dokumentation Archiv Links Kontakt


Die wichtigsten Punkte des Urteils des Amerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall "Castro Castro"


25. November 2006


1. Anzeige und Klagende

Die erste Anzeige über die Vorfälle im Gefängnis Castro Castro (im Bezirk Canto Grande, in Lima) wurde von der Anwältin Sabine Astete im Namen des Komitees der Angehörigen der politischen Gefangenen und Kriegsgefangenen im Mai 1992 erstattet. Darin wurde der peruanische Staat des Genozids beschuldigt. Im Jahre 1997 präsentierte die Anwältin Monica Feria Tinta, die zum Zeitpunkt der Ereignisse selbst Gefangene im Gefängnis Castro Castro war und diese miterlebte, eine weitere Anzeige, der im Jahre 2000 eine Liste mit den Unterschriften von 610 weiteren geschädigten Personen hinzugefügt wurde. Die Kommission vereinte schließlich beide Klagen zu einem Fall. Darauf gab es Rivalitäten zwischen dem Komitee der Angehörigen und Feria Tinta über die Vertretung der Betroffenen, die damit endeten, dass die Mehrheit der Opfer und der Hinterbliebenen der Anwältin die Vertretung übertrugen. Doch das Urteil des Amerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte bezieht sich ausdrücklich auf alle Opfer des Massenmordes im Gefängnis Castro Castro im Mai 1992.

2. Die teilweise Anerkennung der Schuld durch den peruanischen Staat

Über seine Vertreter gab der peruanische Staat unter der Regierung Toledo grundsätzlich zu, dass es im Gefängnis Castro Castro zwischen dem 6. und 9. Mai 1992 zu Rechtsverletzungen gekommen ist, fügte jedoch hinzu, dass bei der Beschlussfassung des Gerichts der historische Kontext des bewaffneten internen Konflikts, der mit der Verletzung von Menschenrechte verbunden war, in Betracht gezogen werden sollte. Über die Definition der mutmaßlichen Opfer und die Rechtsverletzungen vertrat der peruanische Staat die Position, dass diese in dem laufenden Verfahren vor der peruanischen Justiz geklärt werden sollten. Mit Verweis auf dieses Verfahren bestritt er die Verletzung von Rechtsgarantien und des Rechts der Opfer und ihrer Angehörigen auf den Schutz durch die peruanische Justiz. Was die Forderungen der Klagenden nach Maßnahmen zur Wiedergutmachung und Entschädigung angeht, akzeptierte er die Veröffentlichung des Urteils in einer Zeitung mit landesweiter Verbreitung, lehnte es jedoch ab, eine Gedenktafel am Eingang des Gefängnis Castro Castro anzubringen, wie von den Angehörigen gefordert wurde, und begründete dies damit, dass dies der nationalen Versöhnung zuwiderlaufen würde, da sich in dem Gefängnis weiterhin Mitglieder der Kommunistischen Partei Perus (PCP) in Haft befinden. Außerdem wies er darauf hin, dass es bereits ein Mahnmal gibt, mit dem aller Opfer des bewaffneten Konflikts gedacht wird. Bezüglich der finanziellen Entschädigungen schlug er vor, dass die Summen gemäß der Reparationspolitik des peruanischen Staates festgelegt werden, wie der Amerikanische Gerichtshof für Menschenrechte auch in früheren Fällen verfahren ist.

Gegenüber diesen Positionen stellte der Gerichtshof fest, dass die Anerkennung der Schuld einen positiven Beitrag zum Prozess darstellt, erhob jedoch folgende Einwände:

- Der Gerichtshof würdigt es, dass der Staat die Vorwürfe über die Menschenrechtsverletzungen zwischen dem 6. und 9. Mai 1992 für berechtigt erklärt hat, weist aber darauf hin, dass weiterhin eine Kontroverse über die Rechtsverletzungen in der Zeit nach dem 9. Mai besteht, die eine direkte Beziehung zu dem Fall haben.

- Auch wenn sich aus der Schuldanerkenntnis ableiten lässt, dass der peruanische Staat die Verletzung des Rechts auf Leben und persönliche Integrität eingesteht, behält sich das Gericht vor, die juristischen Konsequenzen der begangenen Rechtsverletzungen festzulegen.

- Der Gerichtshof wird aufgrund der Standpunkte beider Parteien und der Beweislage die Art der Rechtsverletzung und die Opfer definieren.

- Der Gerichtshof wird die Maßnahmen zur Wiedergutmachung festlegen und dabei die Einwände des peruanischen Staates in Betracht ziehen.

3. Die bewiesenen Tatbestände und die Verantwortung des peruanischen Staates

Der Gerichtshof kommt bezüglich der bewiesenen Tatbestände bei den Vorkommnissen im Gefängnis Castro Castro vom Mai 1992 zu folgendem Schlussfolgerungen:

1) Vorherige Entwicklung und juristischer Kontext

Der Gerichtshof stellt fest, dass seit Beginn der 80er Jahre bis Ende der 90er Jahre ein Konflikt zwischen bewaffneten Gruppen und Kräften des Staates stattfand, der sich inmitten einer systematischen Praxis von Menschenrechtsverletzungen zuspitzte, darunter illegalen Hinrichtungen und dem zwangsweisen Verschwindenlassen von Personen, die verdächtig waren, einer der bewaffneten Gruppen anzugehören. Diese Praxis wurde von den Kräften des Staates ausgeübt und beruhte auf Befehlen der Armee- und Polizeiführung. Am 5. April 1992 verübte der gewählte Präsident Alberto Fujimori einen Staatsstreich, mit dem er das Parlament und das Verfassungsgericht auflöste und die Justiz und die Staatsanwaltschaft unter seine Kontrolle brachte. Am folgenden Tag bildete er die so genannte "Regierung des Notstandes und der nationalen Wiederaufbaus".

2) Die Wahrheits- und Versöhnungskommission

Der Gerichtshof weist darauf hin, dass er sich bei der Einschätzung der Tatbestände auf die Erkenntnisse der im Juli 2001 eingesetzten Wahrheits- und Versöhnungskommission bezieht, die neben vielen anderen Fällen auch die illegalen Hinrichtungen im Gefängnis Canto Grande untersuchte.

3) Die Gefängnisse und der bewaffnete Konflikt

Unter Bezug auf den Abschlussbericht der Wahrheits- und Versöhnungskommission kommt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass die Mitglieder der bewaffneten Gruppen, vor allen die mutmaßlichen Mitglieder der PCP den bewaffneten Konflikt auf die Gefängnisse ausdehnten, wo sie unter der Anschuldigung des Terrorismus inhaftiert waren. Nach dem Staatsstreich vom 5. April 1992 setzte die Regierung in den Gefängnissen Praktiken wie illegale Hinrichtungen, grausame und unmenschliche Behandlung und den unangemessenen Einsatz von Gewalt in kritischen Situationen ein, die unvereinbar mit dem Recht auf Leben und anderen Rechten der Häftlinge waren. Der Staat führte ein Einheitssystem der Konzentration der Häftlinge ein, ohne eine angemessene Unterscheidung zwischen Untersuchungshäftlingen und rechtskräftig Verurteilten zu treffen. Die peruanische Presse verbreitete Meldungen, dass die Gefangenen der PCP die Kontrolle über das Gefängnis Castro Castro übernommen hätten, von dort diverse Attentate geplant und ihre Gefängnistrakte in Zentren der politischen Indoktrination verwandelt hätten, um das Vorgehen der Regierung zu legitimieren.

4) Das Gefängnis Miguel Castro Castro

Der Gerichtshof weist darauf hin, dass das Gefängnis Miguel Castro Castro als reines Männergefängnis konzipiert war, im Trakt 1A jedoch 135 weibliche Gefangene zusammen mit 50 Männern untergebracht waren, die wegen Terrorismus oder Landesverrats inhaftiert waren und von denen viele Untersuchungshäftlinge waren, wobei bei Einigen die Verfahren später eingestellt wurden. Außerdem hebt der Gerichtshof hervor, dass am 13. April 1992 eine Inspektion im Trakt 1A des Gefängnisses stattfand, bei der Vertreter der Gefängnisleitung, Delegierte der Häftlinge und Vertreter der Staatsanwaltschaft teilnahmen. Im Protokoll der Inspektion wurde festgestellt, dass in dem Gebäude weder Feuerwaffen und Sprengstoff noch von den Häftlingen gegrabene Tunnel gefunden wurden.

4) Die Operation "Mudanza 1"

Mit einem Regierungsdekret wurde am 6 April 1992 die Reorganisation des Nationalen Instituts für Strafvollzug (INPE) und die Übergabe der Sicherheit in den Gefängnissen an die Polizei angeordnet. Im Rahmen dieser Anordnung wurde die Operation "Mudanza 1" geplant und durchgeführt. Nach offizieller Version bestand diese darin, die weiblichen Häftlinge im Trakt 1A des Gefängnisses Miguel Castro Castro in das Hochsicherheitsgefängnis von Chorrillos zu verlegen. Die Regierung informierte weder den Direktor des Gefängnisses noch die Häftlinge, ihre Angehörigen und Anwälte über die angebliche Verlegung. Der Gerichtshof kommt zu dem Schluss, dass das wirkliche Ziel der Operation nicht die Verlegung der weiblichen Häftlinge war, sondern dass es sich um "einen vorsätzlichen Angriff, einen Einsatz handelte, der darauf angelegt war, gegen das Recht auf Leben und Integrität der Gefangenen zu verstoßen, die sich in den Trakten 1A und 4B des Gefängnisses befanden". Der Gerichtshof verweist auf das Urteil der Nationalen Kammer für Terrorismus vom 3. Februar 2004, in dem festgestellt wurde, dass es "Elemente gibt, die bei den Richtern zu dem begründeten Verdacht führen, dass mit der Operation ‚Mudanza 1' auf höchster Regierungsebene (...) die physische Eliminierung der Häftlinge wegen Terrorismus, die sich in den Trakten 1A und 4B befanden, geplant wurde". Das peruanische Gericht weist in diesem Zusammenhang auf den Besuch des Innenministers, die Sitzungen des Ministerrats zur Einschätzung der Situation in dem Gefängnis und den Besuch des Präsidenten Fujimori im Gefängnis Castro Castro zwischen dem 7. und dem 12. Mai 1992 hin.

5) Der Ablauf der "Operation Mudanza 1": die Ereignisse zwischen dem 6. und 9. Mai 1992 im Gefängnis Miguel Castro Castro

Der Gerichtshof sieht folgende Ereignisse für bewiesen an:

Am 6. Mai 1992 um ca. 4:00 Uhr begannen die Sicherheitskräfte des peruanischen Staates den Einsatz, indem sie Teile der Mauer des Innenhofes des Traktes 1A sprengten. Es kam zu drei gleichzeitigen Explosionen. Gleichzeitig besetzten Einsatzkräfte der Polizei das Dach des Gebäudes und öffneten ein Loch, durch das sie auf die Häftlinge im Inneren schossen. Die Einsatzkräfte der Polizei und der Armee benutzten von Anfang an Kriegswaffen, Sprengstoff, Tränengas, sowie Gase, die Brechreiz und Lähmungen hervorrufen. Die eingesetzten Kugeln und Granaten zersplitterten beim Einschlag in die Wände und verletzten viele Häftlinge durch Splitter. Auf den Dächern und in den Fenstern der anderen Gebäude waren Scharfschützen postiert. An dem Einsatz waren Sondereinsatzkommandos der Polizei und Kommandos der Armee beteiligten. Zwischen 9:00 und 9:30 Uhr am 6. Mai beschoss die Polizei den Trakt 1A mit Phosphorbomben und Tränengas, was bei den Häftlingen Erstickungsanfälle und Brennen in den Atemwegen verursachte. Um 10:00 Uhr begannen die Gefangenen des Traktes 4B mit Protesten gegen den Angriff auf ihrer Genossinnen, woraufhin die Polizei sie unter Beschuss nahm. Es bestand ein unterirdischer Gang zwischen den Trakten 1A und 4B, durch den sich am Nachmittag die Gefangenen aus dem Trakt 1A in den Trakt 4B flüchteten. An den Eingängen und Ausgängen zu dem unterirdischen Gang wurden sie von den Einsatzkräften beschossen, wodurch mehrere Häftlinge starben und andere verletzt wurden. Als es den Einsatzkräften am Nachmittag des 6. Mai gelang, in den Trakt 1A einzudringen, nahmen sie dort eine Gruppe von verletzten weiblichen Häftlingen fest, die dort verblieben waren, und brachten sie zunächst in den Aufnahmetrakt des Gefängnisses und später in das Hochsicherheitsgefängnis Chorrillos. Am 7. Mai 1992 versuchten Mitglieder der Nationalen Koordination für Menschenrechte und Angehörige der Häftlinge in das Gefängnis zu gelangen, um zu vermitteln, doch sie wurden von der Polizei gezwungen, sich zurückzuziehen. Die Einsatzkräfte forderten die Häftlinge auf, in Vierergruppen und mit erhobenen Händen den Trakt 4B zu verlassen, was diese nicht akzeptierten. Während einer Sitzung des Ministerrats und der obersten Polizei- und Armeeführung im Verteidigungsministerium zur Einschätzung der Situationen im Gefängnis Castro Castro wurde beschlossen, die Anwesenheit von Menschenrechtsorganisationen vor dem Eingang des Gefängnisses zu verbieten, sowie im Inneren Strom und Wasser abzuschalten. Außerdem wurde eine Intensivierung des Angriffes angeordnet, woraufhin am Nachmittag die Einsatzkräfte von Polizei und Armee den Trakt 4B verstärkt mit Granaten, Maschinengewehren und Tränengasbomben angriffen. Am 8. Mai setzte die Polizei mit Unterstützung der Armee den Angriff fort und bombardierte unter anderem den Trakt 4B aus Hubschraubern mit Raketen, Mörsern und Granaten. Eine Delegation der weiblichen Häftlinge verließ das Gebäude, um mit der Staatsanwältin Mirtha Campos zu sprechen. Es wurde nur einer der Delegierten die Rückkehr in den Trakt 4B erlaubt, um über das Ergebnis des Gesprächs zu informieren. Eine Übereinkunft war, dass eine Gruppe von rund 30 verletzten Gefangenen den Trakt 4B verlassen würden, um ins Krankenhaus transportiert zu werden, doch sie wurden von den Einsatzkräften der Polizei und Armee gezwungen, bis zum Abschluss des Einsatzes am 9. Mai ohne jede Versorgung im zentralen Innenhof des Gefängnisses im Freien auszuharren. Es gab mehrere Versuche von Verhandlungen zwischen den Delegierten der Gefangenen und Vertretern des Staates, doch diese führten zu keinem Ergebnis, da die Häftlinge die Anwesenheit des Internationalen Roten Kreuzes, Vertretern der Amerikanischen Kommission für Menschenrechte, ihrer Anwälte und Angehörigen bei der Verlegung in andere Gefängnisse, sowie die medizinische Versorgung der Verletzten forderten, die bis dahin von den Häftlingen selbst vorgenommen worden war. Die Vertreter des Staates verlangten dagegen, dass die Häftlinge sich bedingungslos ergeben, indem sie den Trakt 4B gruppenweise verlassen und die Verletzten und Toten im Inneren zurücklassen. Der Staat wies ausdrücklich die Vermittlung des Internationalen Roten Kreuzes, der Amerikanischen Kommission für Menschenrechte, der Bischöflichen Kommission für soziale Aktion (CEAS) und der Nationalen Koordination für Menschenrechte zurück, deren Vertreter sich vor dem Eingang des Gefängnisses befanden. Auch die medizinische Versorgung der vielen schwer verletzten Häftlinge wurde abgelehnt. Am 9. Mai um 6:00 Uhr früh wurden die Angriffe auf den Trakt 4B verstärkt wieder aufgenommen. Um etwa 18:00 Uhr teilten die Häftlinge den Einsatzkräften mit, dass sie das Gebäude verlassen würden, und forderten sie auf, nicht zu schießen. Eine Gruppe von Häftlingen, hauptsächlich Personen, die als Führer der PCP betrachtet wurden, verließen als erste das Gebäude und wurden von Scharfschützen beschossen. Der größte Teil dieser Gruppe wurde dabei getötet. Danach verließ eine große Zahl von Häftlingen das Gebäude, auf die ebenfalls geschossen wurden. Unter Beschimpfungen und Schlägen trennten die Einsatzkräfte die weiblichen Gefangenen von den männlichen und zwangen alle, sich bäuchlings im so genannten "Niemandsland" des Gefängnisses auf den Boden zu legen. Als die Häftlinge sich bereits unter der Kontrolle der Einsatzkräfte befanden, wurden Einzelne ausgesondert und illegal hingerichtet. Eine der Leichen wies Verstümmelungen und Spuren von Folter auf. Die Mehrzahl der Toten hatte zwischen 3 und 12 Schusswunden im Kopf und in der Brust. Während des Einsatzes starb ein Polizist durch Schüsse in den Kopf und in die Brust und neun Polizisten wurden verletzt.

Ereignisse nach dem 9. Mai 1992

Die Mehrheit der Überlebenden wurde gezwungen, mehrere Tage lang im so genannten "Niemandsland" im Freien und im Aufnahmetrakt zu bleiben. Sie mussten auf dem Bauch liegen, durften nur zur Errichtung ihrer Notdurft aufstehen und waren ständigen Schlägen und Beschimpfungen ausgesetzt. Ihre einzige Verpflegung waren einmal am Tag Brot und Wasser und gelegentlich eine wässrige Suppe. Sie wurden von bewaffneten Sicherheitskräften und scharfen Hunden bewacht, und wenn sich jemand bewegte oder beklagte, sprangen die Polizisten mit ihren Militärstiefeln auf seinen Rücken. Darunter befanden sich Verletzte und schwangere Frauen. Die Frauen wurden zum Teil in das Hochsicherheitsgefängnis Chorrillos und in das Gefängnis Cachiche in Ica gebracht. Die männlichen Gefangenen blieben über Wochen unter diesen Bedingungen im so genannten "Niemandsland", bis eine Gruppe von ihnen am 22. Mai in den Innenhof des Traktes 1A verlegt wurde. Bei der Verlegung wurden sie gezwungen, sich nackt auszuziehen und mussten ein Spalier von zwei Reihen von Polizisten passieren, die mit Schlagstöcken auf sie einschlugen. Der Rest wurde ebenfalls unter Misshandlungen in das Gefängnis Lurigancho und Yanamayo in Puno verlegt. Die Schwerverletzten wurden ins Polizeikrankenhaus transportiert und später auf die erwähnten Gefängnisse verteilt. Der Gefangene Víctor Olivos Peña wurde ins Leichenschauhaus gebracht, obwohl er noch lebte, und später von seiner Mutter und einem Arzt der Institution gerettet.

Viele der Verletzten waren Tage lang ohne medizinische Versorgung, und diejenigen, die ins Polizeikrankenhaus gebracht wurden, erhielten nicht die notwendigen Medikamente und keine angemessene Behandlung. Dies führte zu Komplikationen bei ihren Verletzungen und zum Tod einiger Häftlinge. Der Transport ins Krankenhaus erfolgte mit Lastwagen, auf denen die Verletzten übereinander lagen und geschlagen und beschimpft wurden. Im Polizeikrankenhaus wurden sie gezwungen, sich nackt auszuziehen und erhielten nur ein Laken, um sich zu bedecken. Sie wurden von bewaffneten Polizisten bewacht, und in einigen Fällen mussten die Frauen ihre Notdurft auf den Toiletten in Anwesenheit der Polizisten verrichten.

Die weiblichen Häftlinge, die sich in den Gefängnissen "Santa Monica" in Chorrillos und "Cristo Rey" in Cachiche befanden, waren ständigen physischen und psychologischen Misshandlungen ausgesetzt. Sie wurden von der Außenwelt isoliert, hatten keinen Zugang zu Büchern, Fernsehen, Radio oder Zeitungen. Es war ihnen nicht erlaubt, miteinander zu reden und irgendeine Arbeit zu verrichten, und selbst Handarbeiten aus Materialien, die sie aus Fäden ihrer Kleidung, Brotkrumen oder den Schalen der Meerestiere aus der Suppe gewannen, wurden ihnen untersagt. Jeder Verstoß gegen die Verbote war Anlass zu Schlägen. Sie erhielten auch keinerlei Mittel für die persönliche Hygiene wie Seife, Toilettenpapier, Monatsbinden, sowie Unterwäsche zum Wechseln und warme Kleidung. Sie waren 23 ½ Stunden oder 24 Stunden am Tag in einer Zelle von 2 mal 2 Metern eingeschlossen, in der es weder Tageslicht noch künstliche Beleuchtung gab. Die Verpflegung war vollkommen unzureichend. Es fanden ständige Durchsuchungen statt, bei denen sie mit Schlägen, Fußtritten, elektrischen Schlagstöcken und Schlägen auf die Fußsohlen misshandelt und mit Wasser überschüttet wurden und Todesdrohungen erhielten. Wenn sie sich weigerten, die Nationalhymne zu singen, wurden sie ebenfalls mit Schlägen bestraft. Die männlichen Gefangenen, die im Gefängnis Castro Castro verblieben oder in die Gefängnisse Lurigancho und Yanamayo verlegt wurden, erhielten eine ähnliche Behandlung.

Das Gefängnis Yanamayo befindet sich in 3800 Meter Höhe, und die Temperatur fällt unter den Gefrierpunkt. Doch die Häftlinge erhielten keinerlei warme Kleidung. Außerdem konnten sie nur Besuch von ihren direkten Angehörigen in Besucherkabinen, die mit einem doppelten Drahtgitter geteilt waren, empfangen, und die Besuche fanden nur einmal für eine halbe Stunde im Monat statt. Aufgrund der Abgelegenheit des Gefängnisses erhielten die Gefangenen nur wenige Male im Jahr oder gar keinen Besuch.

Die Häftlinge hatten über Wochen oder Monate keinerlei Möglichkeit, mit ihren Angehörigen und Anwälten in Kontakt zu treten. Die Angehörigen, die sich während der Operation "Mudanza 1" vor dem Gefängnis Castro Castro versammelt hatten, wurden wiederholt misshandelt und mit Gewalt von den Einsatzkräften vertrieben. Nach dem Abschluss der Operation suchten sie in Krankenhäusern und im Leichenschauhaus nach ihren Verwandten. Sie erhielten von den Behörden keinerlei Informationen über den Verbleib ihrer Angehörigen. Im Fall des Gefangenen Mario Francisco Aguilar Vega wurden die sterblichen Überreste niemals an seine Familie übergeben.

Vier weibliche Gefangene, die zum Zeitpunkt der Ereignisse schwanger waren, erhielten vor und nach der Geburt keinerlei medizinischen Betreuung.

Die Häftlinge, die Opfer dieser Rechtsverletzungen wurden, sind vom Staat und von der Presse als Terroristen bezeichnet worden, obwohl viele von ihnen nicht rechtskräftig verurteilt waren und in mehreren Fällen die Anklage später eingestellt wurde. Desgleichen wurden ihre Angehörigen stigmatisiert und in einigen Fällen sozial isoliert.

Schlussfolgerungen:

Der Gerichtshof gelangt zu dem Schluss, dass keinerlei Beweise für einen angeblichen Gefängnisaufstand vorliegen, mit dem der peruanische Staat anfangs den Einsatz von Gewalt gerechtfertigt hat, sondern dass es sich um einen vorsätzlichen Angriff handelt, der gegen das Leben und die körperliche Unversehrtheit der Häftlinge gerichtet war, die sich in den Trakten 1A und 4B befanden, und stützt sich dabei auf folgende Feststellungen:

- Die Behörden haben zu keinem Zeitpunkt mitgeteilt, dass sie am 6. Mai 1992 eine Verlegung der weiblichen Häftlinge vornehmen wollten.

- Die Operation begann mit dem Einsatz von Gewalt durch die Sprengung der Mauer des Innenhofes des Traktes 1A, und es gibt keinerlei Hinweise, dass die Einsatzkräfte des Staates Maßnahmen ergriffen hätten, die vor dem Einsatz von Gewalt angebracht sind, um diesen zu vermeiden. Das heißt, dass das einzige Mittel der gewaltsame Angriff auf die Gefangenen war.

- Vom ersten Tag der "Operation" an und während der drei folgenden Tage wurden neben Tränengas und Gasen, die Brechreiz und Lähmungen verursachen, Waffen eingesetzt, die von den Experten als Kriegswaffen, wie sie bei militärischen Einsätzen benutzt werden, bezeichnet wurden, darunter Granaten vom Typ Instalaza, Bomben, Raketen, Mörser, Hubschrauber und Panzerwagen. Die Experten hoben hervor, dass Munition benutzt wurde, die aufgrund ihrer hohen Geschwindigkeit eine starke Zerstörung von Gewebe und viele innere Wunden im Körper hervorrufen.

- Der Umfang der eingesetzten Gewalt geht auch aus der Art der Einsatzkräfte hervor, die aus Polizei- und Armeeeinheiten und Sondereinsatzkommandos wie DINOES, UDEX, SUAT und USE bestanden. Diese postierten Scharfschützen auf den Dächern, die ständig gezielt auf die Gefangenen schossen.

- Die Art der Wunden bestätigt, dass die Häftlinge den auf sie abgegebenen Schüssen ausweichen wollten und einige Gefangene durch Explosionen und Verbrennungen starben. Des Weiteren waren bei einigen Gefangenen Schusswunden im Rücken und Armen und Beinen festzustellen. Die Mehrheit der getöteten Häftlinge hatte zwischen 3 und 12 Schusswunden im Kopf und in der Brust.

- Obwohl sich während des Einsatzes mehrere internationale Institutionen und andere Organisationen vor Ort befanden und ihre Vermittlung anboten, um der Gewalt ein Ende zu setzen, benutzte der peruanische Staat kein anderes Mittel als die tödliche Gewalt.

- Am letzten Tag des Einsatzes schossen Einsatzkräfte des Staates gegen Häftlinge, die den Trakt 4B verließen, das heißt auf Häftlinge, die sich der Gewalt des Staates ergaben und keinerlei Gefahr darstellten, durch die eine derartige Gewaltanwendung gerechtfertigt gewesen wäre.

- Einige Häftlinge, die sich in der Gewalt der Einsatzkräfte befanden, wurden ausgesondert und illegal hingerichtet.

- Während der Tage des Einsatzes meldete die Presse, dass der damalige Präsident Alberto Fujimori und der Ministerrat sich in zumindest zwei Fällen mit der obersten Militär- und Polizeiführung trafen, um über die Situation in dem Gefängnis zu beraten und Anweisungen zu erteilen. Sie berichtete auch über einen Besuch des Präsidenten Fujimori vom 10. Mai im Gefängnis, und Pressebilder zeigen ihn, wie er zwischen den Reihen der auf dem Boden liegenden Gefangenen herumläuft.

- Nachdem der Einsatz abgeschlossen war und sich die Häftlinge unter der Kontrolle der Einsatzkräfte befanden, gewährte der Staat den Verletzten erst nach Stunden und teilweise erst nach Tagen medizinische Versorgung, was bei einigen zum Tod und bei anderen zu bleibenden gesundheitlichen Schäden führte.

- Die Verletzten, die in Krankenhäuser gebracht wurden, erhielten nicht die Medikamente, die sie benötigten.

- Die Behörden machten sich der Unterlassung bei der Sammlung, Konservierung und Analyse von Beweisen schuldig. Es wurden keine toxikologischen Untersuchungen angestellt, und es wurde darauf verzichtet, Beweise wie Patronenhülsen und Kugeln, Fingerabdrücke und die Kleider der Toten zu sammeln. Die Autopsieprotokolle und die ballistischen Berichte über die getöteten Gefangenen sind unvollständig. Die Waffen, die bei dem Einsatz beschlagnahmt wurden, und die Kugeln, die den Leichen entnommen wurden oder sich in den Trakten 1A und 4B, im zentralen Innenhof und dem so genannten "Niemandsland" des Gefängnisses Castro Castro befanden, wurden nicht aufbewahrt. Und erst am 31. April 2006 wurde eine Inspektion des Gefängnisses durch das Gericht vorgenommen.

- Bezeichnend ist auch der Unterschied der Zahl der Toten auf beiden Seiten: auf der einen Seite 41 Häftlinge, soweit sie identifiziert sind, auf der anderen Seite ein toter Polizist. Ein ähnliches Verhältnis gab es bei der Zahl der Verletzten von rund 190 Häftlingen gegenüber neun Polizisten.

- Ferner kam die Nationale Kammer für Terrorismus des Obersten Gerichtshofs von Peru zu dem Schluss, dass am 6. Mai 1992 kein Aufstand oder Gewaltakt der Gefangenen vorlag, der eine Gewaltanwendung mit den Merkmalen der "Operation Mudanza 1" gerechtfertigt hätte.

- Der Einsatz der Ordnungskräfte, die mit der Autorisation des Staates stattfand, richtete sich gegen Personen, die in einem staatlichen Gefängnis inhaftiert waren, das heißt Personen, denen gegenüber der Staat als Garant ihrer Rechte die Verantwortung trug, Maßnahmen zu ihrer Sicherheit und zu ihrem besonderen Schutz zu ergreifen.

- Die Gewaltakte richteten sich in besonderem Maße gegen die weiblichen Gefangenen. Dabei hat der Gerichtshof Tatbestände der sexuellen Gewalt gegen Frauen festgestellt.


4. Beschluss des Gerichtshofs

1. Der Gerichtshof befindet den peruanischen Staat der Verletzung des Rechts auf Leben im Falle von 41 Häftlingen des Gefängnisses Castro Castro für schuldig. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass dies die Zahl der identifizierten Opfer ist, und die Amerikanische Kommission für Menschenrechte und die Kläger von der Möglichkeit ausgehen, dass es weitere nicht identifizierte Opfer gibt.

2. Der Gerichtshof befindet den peruanischen Staat der Verletzung des Rechts auf körperliche und moralische Integrität und der Folter im Falle der 41 getöteten und der überlebenden Häftlinge für schuldig. Dabei bezieht er sich sowohl auf die Vorfälle vom 6. bis 9. Mai 1992 im Gefängnis Castro Castro, als auch auf die Behandlung der Gefangenen nach dem Einsatz. Des Weiteren stellt der Gerichtshof die Verletzung des Rechts auf körperliche und moralische Integrität der Angehörigen der Gefangenen fest, basierend auf Misshandlungen durch Polizeikräfte während des Einsatzes im Gefängnis Castro Castro und auf der Behandlung, die sie nach den Ereignissen erfuhren.

3. Der Gerichtshof befindet den peruanischen Staat der Verletzung des Rechts auf Rechtsgarantien und den Schutz durch die Justiz für schuldig. Er bewertet es als positiv, dass die peruanische Justiz ein Verfahren gegen die Verantwortlichen der so genannten "Operation Mudanza 1", einschließlich des damaligen Präsidenten Fujimori, eingeleitet und Schritte unternommen hat, um der Straffreiheit ein Ende zu setzen. Auf der anderen Seite lastet er dem peruanischen Staat an, dass keine ernsthafte, unparteiliche und effektive Untersuchung der Vorfälle innerhalb einer angemessenen Frist erfolgt ist, keine Maßnahmen zur Konservierung der Beweise getroffen wurden und erst 13 Jahre nach den Ereignissen ein Verfahren eingeleitet wurde, wodurch die angemessene Frist zur Aufnahme eines Ermittlungsverfahrens bei weitem überschritten worden ist. Außerdem weist er darauf hin, dass dieses Verfahren sich nur mit den Todesfällen bei dem Einsatz im Gefängnis Castro Castro vom Mai 1992 befasst.

5. Maßnahmen zur Wiedergutmachung

1. Der Gerichtshof verpflichtet den peruanischen Staat, die Vorfälle, die zur Rechtsverletzung in dem vorliegenden Fall geführt haben, zu untersuchen und die Verantwortlichen zu identifizieren, vor Gericht zu stellen und zu bestrafen, und weist darauf hin, dass die bisherigen Maßnahmen der peruanischen Justiz nicht ausreichend sind, um den Opfern Gerechtigkeit zu garantieren. Dabei verweist er ausdrücklich darauf, dass dies auch mit dem laufenden Verfahren vor der peruanischen Justiz nicht gewährleistet ist, da dieses sich nur auf vorsätzlichen Mord bezieht, wodurch die anderen Rechtsverstöße straffrei bleiben.

2. Der Gerichtshof verfügt die Übergabe der sterblichen Reste von Mario Francisco Aguilar Vega an seine Angehörigen innerhalb einer Frist von sechs Monaten, sowie die Übernahme aller Kosten, einschließlich der Beerdigung durch den peruanischen Staat.

3. Der Gerichtshof verurteilt den peruanischen Staat zur Durchführung eines öffentlichen Akts, mit dem er seine Verantwortung gegenüber den Opfern und deren Angehörigen eingesteht. Diese öffentliche Zeremonie sollte in Anwesenheit von Regierungsvertretern, Vertretern der Opfer und ihrer Angehörigen stattfinden und von den Medien, einschließlich Radio und Fernsehen, landesweit verbreitet werden. Die Frist zur Durchführung dieser Zeremonie beträgt ein Jahr nach der Zustellung des Urteils.

4. Der peruanische Staat hat für die Veröffentlichung der Kapitel über die bewiesenen Tatbestände und die Beschlüsse des Urteils in der offiziellen Tageszeitung und in einer anderen Tageszeitung mit landesweiter Verbreitung, sowie über einen Radiosender und einen Fernsehsender mit landesweiter Verbreitung zu sorgen.

5. Der peruanische Staat wird verpflichtet, für eine angemessene psychologische und medizinische Behandlung der Opfer und ihrer Angehörigen zu sorgen, wo diese notwendig ist, und die Kosten dafür zu tragen. Diese sollte sofort nach der Zustellung des Urteils beginnen.

6. Der peruanische Staat wird zur Durchführung eines Schulungsprogramms für die Ordnungskräfte des Staates über die internationalen Standards der Menschenrechte von Gefangenen im Fall einer Störung der öffentlichen Ordnung in Gefängnissen verpflichtet.

7. Der peruanische Staat hat dafür Sorge zu tragen, dass alle Namen der Todesopfer in diesem Fall in die Namensliste des Mahnmals "Das weinende Auge" aufgenommen werden. Dazu sollte er mit den Hinterbliebenen die Durchführung einer Zeremonie koordinieren.

8. Des Weiteren verfügt der Gerichtshof die Zahlung von Entschädigungen an die Opfer und ihre Angehörigen und setzt dafür eine Frist von 18 Monaten.

9. Der peruanische Staat ist verpflichtet die Kosten des Verfahrens sowie die Unkosten der Kläger zur übernehmen.

Quelle: DEr Text beruht auf der spanischen Originalfassung des Urteils des Amerikanischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 25. November 2006



nach oben